Zuflucht im Pfarrhaus

Archivalie des Monats Mai 2009

Dankesbrief von Rosemarie Dessauer an Anni Voß; Pfarrarchiv BelitzDetails anzeigen
Dankesbrief von Rosemarie Dessauer an Anni Voß; Pfarrarchiv Belitz

Dankesbrief von Rosemarie Dessauer an Anni Voß; Pfarrarchiv Belitz

Dankesbrief von Rosemarie Dessauer an Anni Voß; Pfarrarchiv Belitz

In den vielen kleinen Pfarrarchiven unseres Landes liegen oft Dokumente, die mit unerwarteter Aussagekraft Auskunft über menschliche Schicksale geben. Auf ein solches stieß vor einigen Jahren das Forschungsprojekt für Jugendliche "Widerstand im 3. Reich - Mit Gott gegen Gewalt und Vernichtung" der Ev.-Luth. Kirchgemeinde Gadebusch im Archiv der Ev.-Luth. Kirchgemeinde Belitz. Ein äußerlich unscheinbarer Dankesbrief an die Frau des Belitzer Pastors vom 9. Januar 1946 und ein beigefügter Bericht erzählen die dramatische Geschichte des Überlebens einer jungen Frau jüdischer Herkunft in den Jahren der Schoa:

Rosemarie Dessauer, die Verfasserin des Briefes, wurde am 27. Juli 1923 in Berlin als Tochter jüdischer Eltern geboren. Der Apotheker Hugo und seine Ehefrau Berta Dessauer ließen die Tochter evangelisch taufen und christlich erziehen. Der Vater verstarb 1932.

Als im März 1943 die Deportation der Familie erfolgen sollte, wurde Rosemarie bei einer Freundin der Familie versteckt. Im Juni 1943 wurden die Mutter und der zwei Jahre ältere Bruder durch die Geheime Staatspolizei verhaftet und in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Das gesamte Vermögen der Familie wurde beschlagnahmt. Rosemarie, die sich gerade vorübergehend im Hause ihrer Mutter aufhielt, konnte mit Hilfe eines Nachbarn durch dessen Garten flüchten. Seitdem lebte sie ohne Ausweispapiere und Lebensmittelkarten, auf fremde Hilfe angewiesen in verschiedenen Häusern in Berlin-Zehlendorf und außerhalb Berlins.

1944 wurde sie durch Johannes Schwarzkopff, Pfarrer an der Immanuelkirche in Berlin und davor Vorsitzender der Bekennenden Kirche in Mecklenburg, nach Mecklenburg vermittelt. Hier konnte er innerhalb der Bekennenden Kirche auf Pfarrfamilien zurückgreifen, welche in den Ferien "halbjüdische" Kinder und Familien bei sich aufnahmen. Unter dem Decknamen "Maria Weber" oder "Fräulein Schulz" wurde Rosemarie Dessauer von Pfarrhaus zu Pfarrhaus weitergereicht. Im Oktober 1944 kam sie ins Pfarrhaus Pokrent, wo sie vier Wochen im Haushalt von Gerda Voß verbrachte. Pastor Gerhard Voß war seit 1940 im Krieg. Vom Pfarrhaus Pokrent wechselte Rosemarie Dessauer für die nächsten Wochen ins Pfarrhaus Belitz, zu Schwager und Schwägerin von Gerda Voß, Martin und Anni Voß. Das Verstecken sog. „Volljuden“ wurde mit den schärfsten Strafen verfolgt. So erfuhren selbst die Kinder des Pfarrhauses erst nach dem Krieg, daß es sich bei jener dunkelhaarigen jungen Frau, die sie "Tante Maria" nannten und welche sie im Gegenzug liebevoll als kleine "Drachen" betitelte, um eine sogenannte "Volljüdin" gehandelt hatte. Weitere Stationen der jungen Frau waren die Pfarrhäuser der Brüder Timm: Reinshagen, Kessin und Neubrandenburg. Pastor Ingmar Timm, Sohn von Marie Luise und Pastor Dietrich Timm, erinnert sich:

Ich mußte Rosemarie Dessauer (damals Frl. Schulz) im Pfarrgarten Kessin begleiten, ich habe bis heute die drohenden Worte meines sonst so friedlichen Vaters nicht vergessen: ‚Niemand darf euch sehen, dann sind wir alle verloren’.

Die Befreiung im April 1945 erlebte Rosemarie Dessauer in Kühlungsborn im Hause des Vaters der drei Brüder, Kirchenrat i. R. Karl Timm. Nach Kriegsende reiste sie nach Köngen am Neckar. Die Absicht einer Ausbildung zur Krankenschwester am Köngener Krankenhaus führte sie nicht mehr aus. Am 19. September 1946 verließ sie Deutschland und siedelte in die Vereinigten Staaten über. Die letzte den deutschen Entschädigungsbehörden bekannte Anschrift stammt aus dem Jahr 1966. Rosemarie Dessauer lebte zu dieser Zeit verheiratet im Bundesstaat New York.

Ihre Mutter, Berta Dessauer, wurde wenige Tage nach ihrer Ankunft in Auschwitz ermordet. Ihr Bruder, Hans Joachim Dessauer, überlebte und hielt sich im Januar 1946 in Berlin auf.

Das Schicksal von Rosemarie Dessauer bildet eine der zehn biografischen Stationen, die im Zentrum der Wanderausstellung "Kirche - Christen - Juden in Mecklenburg 1933-1945" stehen. Die Ausstellung der Ev.-Luth. Landeskirche Mecklenburgs ist vom 1. Mai bis 27. September 2009 nacheinander in den Kirchen Ludwigslust, Plau am See, Rostock St. Nikolai, Groß Raden und Gadebusch zu sehen. Die genauen Termine und eventuelle weitere Ausstellungsorte erfragen Sie beim Landeskirchlichen Archiv Schwerin (Tel. 0385 / 200385-51/-50 oder www.kirche-mv.de).

Dr. Johann Peter Wurm, Landeskirchliches Archiv Schwerin

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