Archivalie des Monats April 2025

Warum Flüchtlinge und Vertriebene in Mecklenburg-Vorpommern 1946 Umsiedler wurden

Abb.1: Rundschreiben des Umsiedleramtes Mecklenburg-Vorpommern vom 27. März 1946Details anzeigen
Abb.1: Rundschreiben des Umsiedleramtes Mecklenburg-Vorpommern vom 27. März 1946

Abb.1: Rundschreiben des Umsiedleramtes Mecklenburg-Vorpommern vom 27. März 1946

Abb.1: Rundschreiben des Umsiedleramtes Mecklenburg-Vorpommern vom 27. März 1946

Mit zunehmender Dauer des vom nationalsozialistischen Deutschen Reich begonnenen Zweiten Weltkrieges, dessen Ende sich in Kürze zum 80. Mal jährt, bekam die deutsche Bevölkerung seine Wirkungen immer unmittelbarer zu spüren. Die Umstellung auf Kriegswirtschaft verknappte Ressourcen, die Städte ächzten unter alliierten Bombardements, Familien beklagten Kriegsvermisste und -tote, im öffentlichen Erscheinungsbild wurden Verwundete und Versehrte unübersehbar. Dazu kamen, wie beispielsweise die Doberaner Pfarrchronik festhielt, „im Februar 1945 viele Flüchtlinge in unsere Gemeinde, um Aufnahme zu suchen und zu finden. Im März kamen die Trecks hinterpommerscher Bauern, mit Pferden und Wagen und Frauen und Kindern und Greisen auf dem Durchzug […], wochenlang, Wagen hinter Wagen, ein unbeschreiblicher Jammer.“

Die daraus resultierenden Folgen, 1945/46 durch die ethnischen Säuberungen in den vormals deutschen Ostgebieten nochmals verschärft, sollten die neuen Machthaber in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ) noch lange beschäftigen. Alsbald suchten sie, da sich die Probleme trotz aller Ernsthaftigkeit der Bemühungen kaum schnell bewältigen ließen, bestenfalls kreativ zu nennende (Schein-)Lösungen. Am 2. Oktober 1945 diktierte die am 15. September auf Befehl der Sowjetischen Militäradministration als „Zentralverwaltung für Flüchtlingswesen und Heimkehrer“ gegründete und schon zehn Tage später umbenannte „Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler“: „Fortan [ist] in unserem Sprachgebrauch nur die Rede von Umsiedlern. Die Bezeichnung Flüchtlinge oder Ausgewiesene ist nicht mehr zu gebrauchen.“ Einerseits spiegelte die neue Terminologie unmittelbar sowjetisches Verwaltungsvokabular, mit dem die Bürokratie innersowjetische Umsiedlungen national-ethnischer Gruppen bezeichnete. Andererseits machten jedoch auch nationalsozialistische Zwangsmigrationen den Begriff des Umsiedlers, unter dem ab 1940 diverse „volksdeutsche“ Gruppen „Heim ins Reich“ geholt wurden, verbindlich.

Abb. 2: Umsiedler I. Aquarell 1948 von Vera KopetzDetails anzeigen
Abb. 2: Umsiedler I. Aquarell 1948 von Vera Kopetz

Abb. 2: Umsiedler I. Aquarell 1948 von Vera Kopetz

Abb. 2: Umsiedler I. Aquarell 1948 von Vera Kopetz

Hinter den nunmehrigen Vorgaben der sowjetischen Besatzungsmacht verbargen sich mehr oder weniger unverhohlen, wie aus der Umsetzung des zentralen Oktrois in Mecklenburg-Vorpommern noch deutlicher wird, ausschließlich ideologische Absichten. Während die Flüchtlinge und Vertriebenen im SBZ-Durchschnitt knapp ein Viertel der Bevölkerung ausmachten, verzeichnete Mecklenburg-Vorpommern 1946 mit fast 900.000 dieser Menschen den höchsten Anteil an der Gesamtbevölkerung (44 %). Am 27. März 1946 „bat“ das Landesumsiedleramt die Oberbürgermeister und Landräte unter dem Betreff „Nicht ʽFlüchtlingeʼ, sondern ʽUmsiedlerʼ“, sich künftig „nur des Wortes ʽUmsiedlerʼ zu bedienen.“ Dazu führte die Präsidialabteilung aus: „Immer wieder hört und liest man für jene Menschen, die im Zuge der Kriegs- und Nachkriegsgeschehnisse ihre Heimat verlassen mußten, das Wort ʽFlüchtlingeʼ. In dem Wort Flüchtlinge liegt der Begriff Flucht beschlossen und im Begriff Flucht wieder die Annahme von etwas Feindlichem, das zu dieser Flucht Veranlassung gab.“

Die an sich bemerkenswerte Reflektion auf die „Nachkriegsgeschehnisse“ diente vor allem dazu, eine Bumerangwirkung nationalsozialistischer Eroberungspolitik zu suggerieren. „Die Streitkräfte der Besatzungsarmeen, und für unseren Sektor die Rote Armee, sind aber nicht als Vertreter böser Mächte, sondern als Befreier des deutschen Volkes von nazistischer Schreckensherrschaft nach Deutschland gekommen. Wenn im Verlauf der Kriegs- und Nachkriegsgeschehnisse Menschen ihre Heimat verlassen mußten, so haben sie dieses ausschließlich dem Hitlerregime zu verdanken.“ Ganz so einfach, wie es die unverblümt ideologisch motivierte Begründung für den verordneten Wandel des Sprachgebrauchs erscheinen ließ, war die Realität freilich nicht. Einerseits kamen die Flüchtlinge vor allem aus Gebieten östlich von Oder und Neiße, deren Befreiung jene für „unseren Sektor“ zuständige Rote Armee verantwortete, und die Zwangsmigrierten der Nachkriegszeit stammten in erster Linie aus Gebieten unter sowjetischer Besatzungshoheit. Andererseits stellten Flucht und dauerhafte Vertreibung keinesfalls eine zwanghafte Folge des unbestreitbar kriegsverantwortlichen „Hitlerregimes“ dar, da die Sowjetunion zumindest letztere unter Tolerierung der Westalliierten duldete.

Vor allem aber vermochte die Einführung des Euphemismus „Umsiedler“ kein einziges der existenziellen Probleme der Betroffenen zu lösen: Nahrung, Wohnraum, Arbeit, Gleichberechtigung, Integration. Vielmehr galt es, erlittenes Leid und Unrecht ebenso zu tabuisieren wie Vergehen der „Befreier“ und die ideellen Verbindungen zur bisherigen Heimat. Diesbezüglich erfolgten für den öffentlichen Sprachgebrauch noch Nachjustierungen, indem die nunmehrigen „Umsiedler“ noch 1946 als „Neubürger“ und 1950 als „ehemalige Umsiedler“ deklariert wurden. Im Unterschied zur SBZ liefen in den anglo-amerikanischen Besatzungszonen ähnliche Sprachregulierungsversuche durch Ersatzbegriffe wie „Immigrants“ oder „New Citizens“ auch aufgrund des Fehlens einer Durchsetzungsmacht, die einem totalitären System wie in der SBZ eigen ist, ins Leere.

Dr. Matthias Manke

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